“Und wie bei Laura Bridgman gibt es auch bei Vollsinnigen ganze Wortgruppen, besonders aus dem Gebiete der Moral und Theologie, der Philosophie und der Ästhetik, die sie zum bloßen Schwatzvergnügen eingeübt haben, weil der Schullehrer sie ihnen auf der Schule, dem Gymnasium oder der Universität beibrachte.”
Wir behaupten, das Weltbild der Amöbe sei objektiver als das des Menschen, die amöbische Orientierung in den Weltvibrationen müsse der Wirklichkeit ähnlicher sein. Könnten wir uns nun einen Organismus vorstellen, der ohne Gesicht und Gehör, mit mangelhaftem Geschmack und Geruch, nur mit einem guten Tastgefühl ausgerüstet in der Welt stünde, trotzdem aber in Menschensprache menschliche Mitteilung machen könnte, so könnten wir uns in diesem Organismus den Enträtseler der Welt denken. So steht es aber um philosophische Konstruktionen. Der mühsam erdachte, widerspruchsvolle Organismus existiert, existiert leider in zu vielen Exemplaren, in den sogenannten Dreisinnigen, von denen LAURA BRIDGMAN zuerst und am besten beobachtet worden ist. Anstatt jedoch die Rätsel der Welterkenntnis zu lösen, fügt dieser Organismus nur ein neues Rätsel hinzu. Ich behandle den Fall hier, weil er doch einiges Licht verbreitet über die relativ objektiven Erkenntnisdaten der Sinne und über die völlig subjektiven Arbeitsleistungen der Assoziationen.
Nur ein Wort schicke ich voraus: Meine Konstruktion, die Amöbe mit Menschensprache, unterscheidet sich gründlich von der Konstruktion der Natur, von dem Experimente, das die Natur an den Dreisinnigen angestellt hat. Weil dreisinnige Menschen nicht Amöben sind, weil Gesicht und Gehör zwar ausgeschaltet sind, aber das ererbte Menschengehirn mit seiner Anlage zu menschlichen, vollsinnigen Assoziationen vorhanden ist, also die Anlage und die Tendenz zur Subjektivität. Weil endlich die Sprache der Dreisinnigen nicht von ihnen erfunden, nicht amöbisch, nicht objektiv ist, sondern die mangelhaft beigebrachte Sprache vollsinniger, fünfsinniger Menschen. Das wollen wir nicht vergessen, wenn wir uns jetzt dem Falle der LAURA BRIDGMAN zuwenden.
LAURA BRIDGMAN, die arme dreisinnige Amerikanerin, wird etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, als sie erfuhr, daß sie sich von anderen Kindern unterschied und daß sie nur drei Sinne besaß, nämlich den Tastsinn und außerdem ein bißchen Geruch und Geschmack. Sie hatte damals schon das Wort denken ( think ) halb als Verbum, halb als Substantiv kennen gelernt und gebrauchte es auffallend häufig für die Anstrengung des Denkens, die sie in ihrem Kopfe lokalisiert empfand. So sagte sie z.B.: “Mein Denken ist müde.” Als sie nun erfuhr, sie habe nur drei Sinne, rief sie: “Ich habe vier Sinne: Denken und Nase und Mund und Finger (think and nose and mouth and fingers).” Ich will kein besonderes Gewicht darauf legen, daß sie für ihre drei Sinne die Sinnesorgane oder doch die gröbsten Sinnesorgane nannte und das Denken abstrakt bezeichnete; ich habe schon bemerkt, daß think ihr etwa ein Substantiv war und daß sie den Kopf gar wohl als das Sinneswerkzeug der Denkarbeit betrachten konnte, wie die Nase als das Sinneswerkzeug der Geruchsarbeit. Was die Lehrer ihr jedoch mit dem Tastzeichen für think beibrachten, das empfand die Selbstbeobachtung des armen Kindes sicherlich als die schwere Arbeit, sich der Assoziationen ihrer Tastempfindungen zu erinnern, und mochte so den Kopf als das Werkzeug der Erinnerungsarbeit der Nase, dem Munde und den Fingern gleichstellen.
LAURAs Gedächtnis war außerordentlich gut entwickelt. In ihrem vierzehnten Lebensjahre wurde ihr ein kindliches Lesestück in ihrer Sprache “vorgelesen”, und LAURA mußte es am nächsten Tage aus dem Gedächtnisse niederschreiben. Diese Niederschrift hält sich, wenn man von einer gewissen Freude an kleinen Steigerungen absieht, so genau an das Original, daß eine solche Leistung einem vollsinnigen Kinde gleichen Alters nicht immer gelingen würde. LAURA ist also ein Beweis dafür, daß ein außerordentliches Gedächtnis alle oder doch die meisten Assoziationen, deren Verbindungen unsere Welterkenntnis oder Sprache ausmachen, auch ohne Gesicht und Gehör an den Tastsinn binden kann.
Das furchtbare Experiment, welches die Natur an solchen Dreisinnigen, d.h. an Kindern angestellt hat, die zugleich vollständig blind und taub (und infolge der Taubheit auch stumm sind), kann für die Psychologie der Sprache nur unter Anwendung der schärfsten Kritik brauchbare Ergebnisse liefern. Diese Kritik an dem bekanntesten Falle, eben dem der LAURA BRIDGMAN zu üben, ist uns durch die gewissenhafte Monographie WILHELM JERUSALEMs bequem gemacht. Der Fall ist freilich nicht ganz typisch für die Dreisinnigen. Denn erstens verlor LAURA Gesicht und Gehör erst, nachdem sie vollsinnig zwei Jahre alt geworden war und die Anfangsgründe eines normalen Weltbildes und der Sprache schon aufgenommen hatte; von unendlicher Bedeutung wäre es darum gewesen, ihr Gehirn, als sie im Alter von sechzig Jahren gestorben war, nach der Methode von FLECHSIG zu untersuchen und es mit dem Gehirn dreisinnig Geborener zu vergleichen. Zweitens war LAURA offenbar ein ganz ungewöhnlich begabtes, d. h. gedächtnisreiches und wißbegieriges, ehrgeiziges Kind. Der erste Umstand kompliziert ihre Psychologie aufs äußerste; der zweite verführt dazu, die Leistung ihres Lehrers HOWE zu überschätzen. Seine Güte gegen das arme Kind kann freilich gar nicht genug hochgeschätzt werden.
Hier möchte ich zunächst nur auf eines hinweisen, daß Laura nämlich durch den ihr gewordenen Sprachunterricht ohne Zweifel eine außerordentliche Wohltat empfing, daß sie in den Stand gesetzt wurde, mit Kindern und dann mit Erwachsenen zu verkehren, daß jedoch weit mehr die Lust am Schwatzen als die Fähigkeit der Welterkenntnis in ihr ausgebildet wurde. Vom Standpunkte der Menschlichkeit ist dieser Unterricht im Verkehren und Schwatzen nicht genug zu rühmen; Doktor HOWE verwandelte das bedauernswerte Geschöpf aus einem geschlagenen und gestoßenen Halbtiere in ein fröhliches und verhätscheltes Menschenwesen. Berichte über andere Dreisinnige lassen das Tierische in ihrer vorsprachlichen Zeit noch deutlicher hervortreten; aber niemals dürfen wir übersehen, daß da das Epitheton “tierisch” immer nur metaphorisch gebraucht wird, hauptsächlich die Wildheit meint, daß menschliche Instinkte und Bedürfnisse vorhanden sind, und daß nachher der Besitz der Sprache weit mehr dem Vergnügen, der Geselligkeit oder der Poesie als der Welterkenntnis dient. Die Psychologie muß sich hüten, das Geistesleben LAURAs wortabergläubisch dem Geistesleben vollsinniger Menschen um deswillen etwa gleich zu setzen, weil LAURA abstrakte Sätze und sogar kleine Aufsätze schreiben konnte, wie nur irgend eine andere Schülerin. Zu beachten dabei und ihr gutzuschreiben ist freilich die traurige Tatsache, daß das Experiment der Natur von den Menschen empfindlich gestört wurde. Der wackere Doktor HOWE wollte nämlich mit der Unterweisung in religiösen Begriffen und Sätzen warten, bis LAURA die Vorstellungen von Ursache und Wirkung aufgenommen hätte. Die angeblichen Gönner jedoch, welche das bißchen Geld für die Erziehung LAURAs hergegeben hatten, setzten es durch, daß sie von ihrem elften Jahre ab in der “Religion” ihrer Gönner unterrichtet wurde, und da mußte sie freilich bald unverstandene Wortfolgen wie “Heiliges Heim (der Himmel) ist von Ewigkeit zu Ewigkeit” für Eingebungen ihrer dichterischen Phantasie halten.
Zum Vergleiche ladet ein älterer Fall ein, über welchen kein Geringerer als La METTRIE sein Urteil gesprochen hat in einer der Krankengeschichten, die er seinem vielgeschmähten Traité de l’âme hinzufügte. Als der Taubstumme von Chartres sprechen gelernt hatte, befragten ihn sogleich “geschickte Theologen” über seinen vergangenen Geisteszustand aus; ihre wichtigsten Fragen drehten sich um Gott, die Seele, die Güte und das moralisch Schlechte. Es schien nicht, daß er seine Gedanken hätte so weit schweifen lassen. Das sind die Worte des offiziellen Berichts, wie ihn die Pariser Akademie der Wissenschaften von 1703 liefert. In der Geschichte eines operierten Starblinden, der zunächst eine Kugel und einen Würfel nicht unterscheiden konnte, kommt La METTRIE auf die Dummheit der Fragen zurück und gibt zu verstehen, daß er mit LOCKE die angeborenen Ideen leugne und im Verstande nichts suche, als was vorher in den Sinnen gewesen ist. “Man hat mehr Gewandtheit darin, Irrtümer zu stützen, als die Wahrheit zu entdecken. Die geschickten Theologen, welche den Taubstummen von Chartres ausfragten, hofften in der Menschennatur Urteile vorzufinden, welche dem ersten Sinneseindruck vorausgingen.” Sehr beachtenswert ist dabei, daß La METTRIE sich den Fall von LAURA BRIDGMAN im voraus konstruiert, wenn er der Bemerkung des offiziellen Berichts, daß der größte Teil der allgemeinen Vorstellungen aus dem Verkehre der Menschen stamme, die Behauptung entgegenstellt, es gelte das noch allgemeiner. Wäre der Taubstumme auch noch blind gewesen, so wäre er ganz ohne Ideen geblieben, wobei La METTRIE allerdings die Assoziationsfähigkeit der Tasteindrücke übersieht.
Fast gleichzeitig mit La METTRIE, aber doch etwas später, hat sich DIDEROT mit der Psychologie der Sinne beschäftigt. In seinen Briefen Sur les aveugles und Sur les Sourds et Muets. Besonders der zweite Brief (von 1751) ist des Mannes würdig, dessen Einfluß auf Europas Kultur, insbesondere auf den deutschen Geist (auf LESSING und GOETHE immer noch nicht genug deutlich gemacht worden ist. Der Brief Sur les Sourds et Muets hat LESSING die Idee zu seinem Laokoon und CONDILLAC den Einfall gegeben, seine vielzitierte Marmorstatue durch Gewinn der einzelnen Sinne zu einem Ich werden zu lassen. DIDEROT war nicht so gründlich wie LESSING, doch viel scharfsichtiger als CONDILLAC. DIDEROT erfand (darum nenne ich ihn hier) die Fiktion von Menschen, die nur Einen Sinn hätten. Sie würden einander für wahnsinnig halten. Wie das überhaupt alltäglich geschieht.
Abgesehen von solchen tiefen Scherzen weiß er besser als CONDILLAC, daß mit dem Tastsinn angefangen werden müsse. Man spielte mit der Vorstellung dreisinniger, einsinniger Menschen. Doch ein lebendiges Wesen wie LAURA BRIDGMAN wäre auch noch hundert Jahre später kaum glaubhaft erschienen, hätte sie nicht wirklich gelebt und gelehrte Zeitgenossen in Erstaunen gesetzt.
Die starke Wahrscheinlichkeit, daß sie mit Vergnügen Worte ohne Sinn gebrauchte, ist nun schon bei ihren Lebzeiten ausgesprochen worden und zwar von dem amerikanischen Psychologen STANLEY HALL, der sie in ihrem fünfzigsten Lebensjahre wissenschaftlich beobachtete. Es ist öfter hervorgehoben worden, daß LAURA die Farben der meisten Blumen, die Farben des Himmels, des Grases, des Blutes anzugeben wußte. (Daß sie die Farben ihrer eigenen Kleider kannte, gehört nicht hierher.) STANLEY HALL meint nun, alle diese Farbenbezeichnungen seien ganz konventionell und sprachlich, ein bloßes Wortwissen. “Sie hat sich niemals einen Begriff davon gemacht, womit Farbe Ähnlichkeit habe, wie so viele Blinde tun. In ihrem Geiste ist Farbe nie mit einer anderen Sinnesempfindung identifiziert oder in Analogie gebracht worden.”
Offenbar machte ihr das Bilden von Sätzen, wie “Himmel ist blau, Gras ist grün,” ein rechtes Vergnügen, wie es spielenden Kindern ein Vergnügen ist, wenn sie sinnlose Abzählverse anwenden gelernt haben, wie es ehrgeizigen Kindern in der Schule ein Vergnügen ist, völlig unverstandene Sätze aus der Glaubenslehre richtig nachzusagen. Einen hübschen Beleg dafür, wie das Sprechenlernen ihr Freude machte, ohne daß es sie im Denken oder im Verkehre förderte, gibt das folgende. Sie war im achten Jahre aus ihrer Halbtierheit heraus nach Boston in die Anstalt gebracht worden. Als sie nun zwei Jahre später mit ihrer Lehrerin ihr elterliches Haus aufsuchte, erinnerte sie sich der Räume und Gegenstände sehr wohl und ließ sich von der Lehrerin alle diese Erinnerungen nachträglich benennen.
Warum bildeten nun LAURAs Wortzeichen für Farben keine Assoziationszentren? Bildeten ihr doch ihre Wortzeichen für Menschen und Dinge, für Handlungen und Gefühle sehr lebhafte Assoziationszentren. Offenbar darum nicht, weil die Bekanntschaft LAURAs mit der Wirklichkeitswelt (abgesehen von den sehr schlecht entwickelten Sinnen für Geschmack und Geruch) ausschließlich durch den Tastsinn vermittelt wurde und weil die Tastzeichen ihrer Worte nichts anderes sein konnten als die Zwischenstationen zwischen ihrem Denken und ihren unmittelbaren Tastwahrnehmungen, wie denn auch beim normalen Menschen die hörbaren, beim Büchermenschen die sichtbaren Wortzeichen aus praktischen Gründen als Zwischenstationen zwischen dem Denken und allen Sinneswahmehmungen aufgefaßt werden könnten. Nur daß bei LAURA die Übersetzung in die hörbaren oder sichtbaren Zeichen fehlte. Wenn sie nun Worte für menschliche Individuen, für Gegenstände des Hausrats u.s.w. gebrauchen lernte, so assoziierten sich die Tastzeichen für Worte mit den Tastzeichen für Menschen und Dinge. Tastzeichen für Worte aus dem Gebiete des Hörens konnten immer noch wirkliche Wahrnehmungen assoziieren, weil LAURA ihren Tastsinn für die Vibrationen tönender Gegenstände oder der tönenden Luft in erstaunlicher Weise verfeinert hatte. Hatte sie jedoch Tastzeichen für Farbenworte erlernt, so war beim Lernen dieser Wortgattung eine Assoziation mit unmittelbaren Tastempfindungen ausgeschlossen und es konnten darum beim späteren Gebrauche dieser Worte auch keine Assoziationen vollzogen werden. Denn es gibt im Verstande auch keine Assoziation, die nicht vorher in den Sinnessphären angebahnt worden ist.
Uns aber ist dieses Schwatzen von LAURA BRIDGMAN nebenbei darum so lehrreich, weil es mit dem Schwatzen anderer Menschen, auch mit dem Schwatzen von Gelehrten und Schriftstellern eine auffallende Ähnlichkeit besitzt. DIDEROT hat in seinen beiden berühmten Briefen auf diesen sinnlosen Wortgebrauch boshaft genug schon aufmerksam gemacht.
Noch epigrammatischer beschließt VOLTAIRE sein kleines Geschichtchen “Le Aveugles juges des couleurs” mit der prächtigen Moral. Auch vollsinnige Menschen stehen nicht an, mit eitlem Vergnügen Worte in Sätzen zu verbinden, welche sie nur dem Klange nach sprechen gelernt haben, die sich jedoch mit keiner Wahrnehmung aus der Wirklichkeitswelt verbinden, weil keine Mitteilung der Sinne mit dem Erlernen dieser Klänge verknüpft worden ist. Und wie bei LAURA BRIDGMAN gibt es auch bei Vollsinnigen ganze Wortgruppen, besonders aus dem Gebiete der Moral und Theologie, der Philosophie und der Ästhetik, die sie zum bloßen Schwatzvergnügen eingeübt haben, weil der Schullehrer sie ihnen auf der Schule, dem Gymnasium oder der Universität beibrachte, bevor sie die Begriffe von Ursache und Wirkung entsprechend kritisch genug aufgenommen hatten. “Heiliges Heim ist von Ewigkeit zu Ewigkeit,” sagte LAURA. Auf allen diesen Gebieten war LAURA eine recht gebildete Dame; für die Psychologie des Schwatzvergnügens ist es nebensächlich, ob der Tastsinn oder das Gehör die Assoziationszentren liefert, ob die Finger oder die Lippen sich beim Sprechen bewegen.
Für die physiologische Psychologie aber, insofern sie Bewußtseinsvorgänge im Gehirn zu lokalisieren sucht, müßte der Fall der LAURA BRIDGMAN sehr lehrreich sein. Den Erforschem des menschlichen Gehirns scheint kaum ein Ergebnis sicherer zu sein, als die Existenz von Gehirnprovinzen, den sogenannten Zentren, in denen die hörbaren Zeichen sich bei ihrer Entstehung und bei ihrem Gebrauche mit allen zugehörigen Vorstellungen assoziieren oder assoziieren können. So ist wirklich beim normalen Menschen das Gehirn das Denkorgan dort, wo es das innere Sprachorgan ist. Es ist schon oft beobachtet worden, daß der kluge und denkende Hund seine Vorstellungen höchst wahrscheinlich mit Geruchsempfindungen oder vielleicht auch mit Zeichen von oder für Geruchserinnerungen assoziiert.
JULIA BRACE, eine Taubstummblinde, die zu alt zu Doktor HOWE kam, um noch sprechen lernen zu können, hatte ihren Geruch in Stellvertretung so ausgebildet, daß sie aus einem Haufen Handschuhe ein zusammengehörendes Paar und sogar die Handschuhe zweier Schwestern herausfinden konnte.
LAURA BRIDGMAN nun, welche sich in ihrem Geistesleben doch auf menschlicher Höhe hielt, konnte denken oder sprechen, assoziierte jedoch alle ihre Erfahrungen durch Tastempfindungen. Sie hatte zuerst betastete Gegenstände mit betasteten Wortzeichen assoziieren gelernt, lernte später eine selbständige Fingersprache, gelangte aber mit alledem über Erinnerungen an Tastempfindungen nicht hinaus; in der Fingersprache sprach sie mit sich selbst, in der Fingersprache träumte sie sogar.
Wenn man nun nicht glauben will, daß das Abstraktum Sprache, das es in der Wirklichkeitswelt nicht gibt, wie eine Gottheit ein besonderes Sprachzentrum des Gehirns beherrsche, wenn man weiter bedenkt, daß alle Untersuchungen des menschlichen Gehirns in dieser Richtung immer nur die Verbindung des Denkens mit den Leitungen der normalen Sprache, den Gehörnerven und den Gesichtsnerven, aufsuchen, wenn man die doch naheliegende Hypothese aufstellt, daß die gleiche Gehirnprovinz bei Laura BRIDGMAN zum Zwecke des Denkens eine Verbindung mit den Tastnerven eingehen mußte, so scheint mir die physiologische Psychologie unserer Tage einen recht fühlbaren Stoß zu erhalten. Sie muß schon um dieses Falles willen umlernen. Sie muß das Abstraktum, Sprache den längst verabschiedeten Seelenvermögen nachschicken.
In den letzten Jahren sind aus der Zahl der etwa fünfzig Dreisinnigen, von denen fünf oder sechs als Dreisinnige geboren waren, der Fall von HELEN KELLER und der Fall von MARIE HEURTIN genauer bekannt geworden. HELEN KELLER ist sogar, nicht ohne Zutun amerikanischer Reklame, zu einer Art literarischer Berühmtheit gelangt. Eine Taubstummblinde konnte eine geschätzte Worthändlerin werden. MARIE HEURTIN wiederum kam in die Entreprise einer katholischen Reklame. Mit psychologischem Ernste ist der Fall HELEN von WILLIAM STERN, der Fall MARIE von WILHELM JERUSALEM behandelt worden. HELEN übertrifft LAURA an Begabung oder Wortgedächtnis ebenso sehr, wie MARIE, die dreisinnig Geborene, hinter LAURA zurückbleibt. Was LAURAs Geschichte lehren konnte, ist durch die neueren Beobachtungen nicht wesentlich verändert worden. Aufwühlendes Mitgefühl für die Opfer des Naturexperiments und Bewunderung für ihre Pädagogen darf uns nicht taub und blind und stumm machen für die Wahrheit: LAURA, HELEN und MARIE sind glücklichere Geschöpfe geworden durch das befriedigte Schwatzvergnügen und durch die erworbene Fähigkeit, guten Menschen ihre Wünsche mitzuteilen; für den Erkenntniswert der Sprache beweisen die geschulten Dreisinnigen nichts. Aus Tieren sind sie Menschen geworden. Das ist alles. Nur Menschen bewerten das menschlich. Als MARIE noch bellte wie ein Hund, legte ihr bereits die Tante, weil sie das Bellen verstand, Obstmus auf das trockene Brot.
Auch im Tierstand, vor Erlernung einer Sprache, waren LAURA, HELEN und MARIE Organismen, Individuen, merkten sich ihre Interessen; durch die Sprache lernten sie nur, ihre Leiden und Freuden zwischen den Menschen, zwischen mehr Menschen, an das Gedächtnis von Tast- und Bewegungsempfindungen knüpfen.
Die Assoziationsfähigkeit der Tastempfindungen war bei LAURA BRIDGMAN bewundernswert, wenn man allen Berichten glauben darf. “Laura erkannte bei der leisesten Berührung jede Person, die sie einmal kennen gelernt hatte, selbst nach mehreren Jahren wieder. Selbst die Stimmung ihrer Bekannten erriet sie durch Befühlen des Gesichtes.” Eine sogenannte Erklärung dafür wird man in der Parallelerscheinung finden, daß LAURA (nach der bekannten WEBERschen Methode gemessen) für Unterscheidung zweier nahen Tastempfindungen sowohl an den empfindlichsten wie an den dumpfesten Körperstellen etwa dreimal so genaue Feinheit besaß als ein Normalmensch.
Aber diese Assoziationsfähigkeit oder Denkkraft oder Begabung LAURAs — wie immer man die Äußerungen ihrer Gebärdensprache nennen mag — führen immer auf ihr vorzügliches Gedächtnis als Quelle zurück. Materialistische Psychologen mögen es unter sich ausmachen, wie in ihrem Gehirn das Tastzentrum “vikariierend” für das Gehörzentrum eintreten konnte, ohne die Lehre von den Lokalisationen über den Haufen zu werfen.
Für eine höhere Warte ist es ein Nebenumstand, daß das Gedächtnis der Dreisinnigen an Tast- und Bewegungsgefühle geknüpft werden muß, weil die Fäden des Gesichts- und Gehörsinns gerissen sind. Es bleibt, mit einer leisen Änderung, bei dem alten Satze: Es ist nichts im Verstande oder im Gedächtnis oder in der Sprache, was nicht vorher in einem der Zufallssinne gewesen ist. Und weil mir vorgeworfen wird, daß ich diesen alten Satz zu oft bemühe, so will ich diesmal, um seine eigentliche Weisheit zu erhellen, ein für allemal noch sagen, daß er nach meiner Meinung gar nicht materialistisch oder sensualistisch ausgebeutet werden darf. Im Intellekt oder in der Sprache oder im Gedächtnis ist natürlich nichts, was nicht vorher in den Sinnen war, in den Zufallssinnen. Nur unsere Gehirnarbeit also, unsere Sprache oder unser Gedächtnis, ist sinnlich, sinnhaft, sensualistisch. Für das andere, das eigentlich ist und wird, das auch wir sind und widerwirken, haben wir keinen Sinn und darum kein Wort.
Kommentare sind geschlossen.